Epistemische vs. instrumentelle Rationalität

Eine Person verfügt über Evidenzen. Sie würde sich epistemisch rational verhalten, wenn sie Aussagen glaubt, die auf diesen basieren, während sie sich von Aussagen distanziert, die aufgrund derselben Evidenzen unwahrscheinlich sind. Instrumentell rational verhält sie sich dagegen, wenn sie Mittel einsetzt, um ihre Ziele zu erreichen. Als Beispiel können wir uns folgende Szenarien vorstellen:

Die Person verfügt über die Evidenzen (E1), dass der Himmel mit schwarzen Wolken bedeckt ist, und (E2), dass ein starker Wind weht. Es wäre epistemisch rational für sie zu glauben, dass bald ein Sturm aufzieht, so dass es eine gute Idee wäre, einen Regenschirm einzupacken. Dementsprechend wäre es irrational von ihr, wenn sie glauben würde, dass ihre Kleider trocken bleiben. Die schwarzen Wolken und der starke Wind stellen hier einen epistemischen Grund (GE) dafür dar, dass sie glaubt, dass es besser wäre einen Regenschirm einzupacken.

Die Person verfügt über zwei Evidenzen, (E1) ihre Flasche ist leer und (E2) in der Kneipe gibt es nur Bier und salzige Erdnüsse. Sie hat außerdem das Ziel (Z), das Durstgefühl zu beseitigen. Sie würde sich instrumentell rational verhalten, wenn sie sich ein weiteres Bier bestellt und dementsprechend irrational, wenn sie stattdessen die Erdnüsse bestellt. Der Wunsch zur Beseitigung des Durstgefühls wäre in diesem Fall ein instrumenteller Grund (GI).

Eine interessante Frage innerhalb der Erkenntnistheorie ist nun, ob es sich bei diesen zwei Arten von Rationalität, d. h. der epistemischen und der instrumentellen, um zwei verschiedene Arten von Rationalität handelt. Eine populäre Meinung unter den Erkenntnistheoretiker*innen ist, dass die epistemische Rationalität im Grunde der instrumentellen entspricht. Gemeint ist damit die Ansicht, dass die epistemische Rationalität eben nichts mehr ist als die Rationalität, die es ermöglicht, Ziele zu erreichen, auch wenn diese rein kognitiv oder epistemisch sind. Kognitive Ziele sind oft mit dem Erwerb neuen Wissens verbunden, wobei epistemische Ziele oft mit dem Fürwahrhalten einer Aussage einhergehen. Im o. g. Beispiel könnte man die Formulierung »die Person glaubt« durch »die Person erreicht ihr epistemisches Ziel« ersetzen und schon hat man ein besseres Verständnis dafür, wie die Gleichsetzung beider Arten von Rationalität funktionieren kann. Es wird sich aber im Weiteren zeigen, dass genau diese Gleichsetzung eine große Quelle für Missverständnisse sein kann. Aber bevor Argumente gegen diese Gleichsetzung gebracht werden können, betrachten wir zunächst ein speziell dafür konstruiertes Beispiel:

Eine Person möchte die Antwort auf eine Frage wissen. Sie würde sich rational verhalten, wenn sie beginnt z. B. durch Internetrecherche nach der Antwort zu suchen und dementsprechend irrational, wenn sie, gegeben das Ziel, dies nicht tut. Tatsächlich handelt es sich hier um ein kognitives Ziel, aber die Rationalität, die hier am Werk ist, ist von instrumenteller Art: eine Rationalität, die zur Folge hat, etwas zu tun, statt zu glauben oder zu wissen. Dieses Beispiel macht deutlich, dass es unter Umständen möglich ist, beide Arten von Rationalität auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wegen dieses reduktionistischen Charakters, ist die Idee sehr attraktiv und daher auch populär. In seinem Aufsatz [1] bezeichnet Thomas Kelly diese Idee als die instrumentelle Konzeption der epistemischen Rationalität. [613] Für die Instrumentalisten gibt es nur eine Art von Rationalität, nämlich die, die Mittel zu Zwecken führt, egal welcher Art.

Es gibt auch Erkenntnistheoretiker*innen, die der Ansicht sind, dass diese zwei Arten von Rationalität grundsätzlich verschieden sind und dass diese Reduktion nicht gerechtfertigt zu sein scheint. Kelly ist mit dieser Gleichsetzung nicht einverstanden. Er berichtet über die Konsequenzen dieser Debatte, die sehr weitreichend sind und einige Punkte bzgl. des normativen Charakters in der Erkenntnistheorie berühren, z. B. ob dieser rein naturalistisch beschrieben werden kann. [614 – 616] Aber auch außerhalb dieses konkreten Projektes einer Naturalisierung der epistemischen Normativität hält Kelly es für lohnenswert, der epistemischen Rationalität als einem separaten Thema innerhalb der Erkenntnistheorie nachzugehen. [618] Schließlich argumentiert er, dass die theoretische Vernunft zuletzt nur durch die gemeinsame Anwendung beider Arten von Rationalität möglich ist, sei es in wissenschaftlichen Untersuchungen oder bei einfachen Überlegungen im Alltag. [634 – 637] Das setzt voraus, dass diese zwei Arten von Rationalität nicht identisch sind. Für Kelly ist es daher wichtig, klarzustellen, dass es sich bei beiden um zwei verschiedene Arten von Rationalität handelt. Daher präsentiert er in seinem Aufsatz einige Einwände gegen die instrumentelle Konzeption der epistemischen Rationalität, die wir im Folgenden näher betrachten werden.

Kelly hebt eine charakteristische Eigenschaft der instrumentellen Gründe hervor, nämlich, dass die Existenz instrumenteller Gründe dadurch bedingt ist, dass die Person, die im Besitz dieser Gründe ist, auch immer bestimmte Ziele hat. [621] Im o. g. Beispiel erkennt man eine intrinsische Verbindung oder Abhängigkeit zwischen (GI) und (Z). Instrumentelle Gründe hat man also nur dann, wenn man auch bestimmte Ziele hat. Wegen dieser Abhängigkeit bezeichnet Kelly die instrumentellen Gründe als hypothetisch.

Was eine Person glaubt – und dies auf bestimmten Gründen basiert – kann allerdings unabhängig sein von den Zielen, die sie verfolgt. Für das dritte Beispiel, das oben genannt wurde, habe ich eine Umformulierung vorgeschlagen, nämlich statt »die Person glaubt« die Formulierung »die Person erreicht ihr kognitives Ziel« zu verwenden. Diese naheliegende Umformulierung gab uns Aufschluss über die Ähnlichkeit beider Arten von Rationalität; sie ist möglicherweise auch der Grund für die Popularität des Instrumentalismus über die epistemische Rationalität. Diese Umformulierung kann aber auch irreführend sein. Eine Person kann Gründe für den Glauben an eine Aussage haben, ohne dass sie notwendigerweise ein bestimmtes Ziel verfolgt. Sie kann z. B. Gründe haben, zu glauben, dass Rauchen ungesund ist, ohne ein konkretes Ziel zu verfolgen, etwa mit dem Rauchen aufzuhören. Sie kann diese Ansicht anderen Menschen mitteilen oder ihn für eigene Überlegungen weiterverwenden. Es ist für Kelly daher offensichtlich, dass diese Eigenschaft den epistemischen Gründen einen kategorischen Charakter verleiht. [ebd.]

Dies wird noch deutlicher, wenn man die Intersubjektivität der epistemischen Gründe näher betrachtet. Wenn zwei Personen davon überzeugt sind, dass (um die tückische Formulierungen »normalerweise« nicht zu verwenden) alle bisher gesehenen Smaragde grün waren, dann haben beide fundierte Gründe dafür zu glauben, dass der nächste zu betrachtende Smaragd ebenso grün sein wird. Die eine Person tut dies eventuell mit dem Ziel einen zu kaufen, die zweite, der ersteren einen zu verkaufen. Bei dem Glauben an die Smaragdfarbe handelt es hier nicht um den Glauben an die Smaragdfarbe angesichts einer bestimmten pekuniären Tätigkeit, die Smaragdfarbe ist die Farbe des Smaragds. Schlussfolgerungen einer Person haben daher einen allgemeinen Charakter und sind unabhängig von bestimmten Zielen, die sie im Laufe der Zeit haben kann.

Wie sieht es aus für den Fall, dass sich bei den erwähnten Szenarien um universal relevante Ziele handelt, die im Hintergrund unserer Schlussfolgerungen verbergen sind, etwa wie »jeder hat das Ziel, immer die Wahrheit zu erfahren« oder »jeder hat das Ziel länger zu leben«. Eine Instrumentalistin kann also behaupten, dass die kategorische Eigenschaft der epistemischen Gründe durch die Existenz solcher universalen, wenn auch versteckten Ziele, erklärt werden können. Sie könnte meinen, dass es sich bei der kategorischen Eigenschaft der epistemischen Gründe letztendlich um ein Artefakt handelt. Wenn man davon ausgehen würde, dass Menschen im Grunde solche universalen Ziele haben können, kann dies zur Folge haben, dass die instrumentelle Konzeption erneut eine allgemeinere Erklärung für die Behandlung beider Arten von Rationalität bietet und damit wäre die Reduktion erfolgreich.

Kelly argumentiert, dass dieser instrumentalistische Einwand nicht zum Tragen kommen kann, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass solche universalen Ziele überhaupt existieren, die man den Menschen zuschreiben kann. Es ist also nicht typisch für Menschen, ein solches Ziel zu haben wie zum Beispiel »immer die Wahrheit erfahren zu wollen«. [623] Diese, der Intuition widersprechende Aussage bedarf einer Erklärung. Individuen zeigen in der Tat oft eine Präferenz dafür, dass das woran sie glauben, auch der Wahrheit entspricht. Aus diesem Grund engagieren sie sich in Aktivitäten, damit sie sicherstellen können, dass ihre Vorstellung auch wahr ist, z. B. eine Recherche zu starten oder Experimente durchzuführen. Die Ziele die man durch diese Aktivitäten erreicht könnte man als kognitive Ziele betrachten, die in ihrem Umfang jeweils enger oder breiter aufgestellt sein können. Ein Beispiel für ein eng aufgestelltes Ziel ist, wenn man die genaue Adresse einer bestimmten Bibliothek sucht; dagegen würde es sich um ein breiteres Ziel handeln, wenn man eine Zeitung aufschlägt, um sich über die Nachrichten des Tages zu informieren. Kelly argumentiert weiter, dass der instrumentalistische Fehler darin besteht, zu glauben, dass diese epistemischen Ziele einen unendlich breiten Umfang haben können. Freilich haben Individuen allerlei spezielle kognitive Ziele, vergeblich ist aber die Suche nach einem zentralen Ziel, das 1) besser erreicht werden kann, sobald ein Individuum eine weitere wahre Aussage glaubt und 2) dass Menschen auch tatsächlich im Besitz eines solchen Ziels sind. [629]

Außerdem kann es in Wirklichkeit Fälle geben, bei denen die Person entweder 1) gar keine bestimmten Ziele hat, 2) gegenüber den möglichen Zielen gleichgültig ist 3) vorsätzlich das Erreichen eines epistemischen Ziels vermeiden möchte, sei es kognitiv oder nicht. Das kann etwa passieren, wenn die Person in einem konkreten Fall gar keine Präferenzen bezüglich des Wahrheitsgehalts einer Aussage hat. Kelly argumentiert also, dass diese Fälle im Grunde nicht in der Menge aller Ziele zu finden sind, die den breitest möglichen Umfang haben. Betrachten wir als Beispiel für ein Ziel mit dem breitmöglichsten Umfang den Fall »viele Ziele haben«. Dieser Fall definiert eine Menge von vielen möglichen Zielen. Was man aber unter diesen Zielen nicht finden kann sind Ziele wie »gar keine Ziele haben« oder »bzgl. eines bestimmten Ziels gleichgültig zu sein« oder sogar »ein Ziel absichtlich vermeiden wollen«. Als Beispiel: wenn eine Veganerin auf dem Weg zur Bäckerei zufällig die geschlossenen Fenster einer Metzgerei bemerkt, hat sie ab sofort starke (epistemische) Gründe dafür zu glauben, dass die Metzgerei geschlossen hat, auch wenn sie im Vorfeld, oder überhaupt, sich wenig für den Zustand der Metzgerei interessiert hatte. Für die absichtliche Vermeidung eines epistemischen Ziels nennt Kelly als Beispiel den Fall, dass jemand das Ende eines Romans oder Films von niemandem erzählt bekommen möchte, damit der Spaß beim Lesen oder Zuschauen nicht beeinträchtigt wird. Somit ist es nicht möglich für epistemische Ziele einen unendlich breiten Umfang zu haben, so dass das Gegenargument nicht zum Tragen kommen kann. [626]

Diese Beispiele zeigen vor allem, dass sobald man starke epistemische Gründe fürs Akzeptieren einer Aussage hat, es rational ist dieser Aussage zielunabhängig zu glauben. Diese Rationalität ist freilich von der epistemischen Art. Individuen unterscheiden sich oft in der Hinsicht, ob ein Thema ihnen gleichgültig ist oder nicht. Sie unterscheiden sich damit auch dadurch, welche kognitive Ziele sie haben. In einem Beispiel nennt Kelly zwei Personen, die jeweils in unterschiedlichen Städten wohnen und sich dafür interessieren, welche Straßen in der jeweiligen Heimatstadt Einbahnstraßen sind, während für beide die Situation in der jeweils anderen Stadt gleichgültig ist. Das jeweilige epistemische Ziel der beiden Personen ist unterschiedlich: nämlich das Wissen über die Einbahnstraßen der jeweiligen Städte. Das muss aber nicht unbedingt bedeuten, dass das, woran sie glauben auch unterschiedlich sein muss. Die unterschiedlichen kognitiven Ziele müssen zudem nicht notwendigerweise durch unterschiedliche Gründe erreicht werden. Die Gründe können durchaus die gleichen sein, z. B. dass durch das Wissen über die Einbahnstraßen einem versehentlichen verkehrswidrigem Fahrverhalten vorgebeugt werden kann. Laut Kelly verleiht diese Eigenschaft den epistemischen Gründen einen intersubjektiven Charakter. [625 – 626] Die Intersubjektivität der epistemischen Gründe ist wiederum ein weiterer Beleg dafür, dass epistemische Gründe kategorisch sind, was diese in Kontrast zu dem hypothetischen Charakter der instrumentellen Gründe setzt.

Mit diesen Gegenargumenten gelingt es Kelly zu zeigen, dass eine instrumentalistische Konzeption für die Beschreibung der epistemischen Rationalität nicht ausreichend sein kann.

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Fußnoten:
  1. Kelly T., Epistemic Rationality as Instrumental Rationality: A Critique, Philosophy and Phenomenological Research Vol. 66, No. 3 (2003), pp. 612-640. Aus Platzgründen werden die Zitate aus diesem Werk im Text als Seitenzahlen in eckigen Klammern angegeben.

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© xaratustrah, the angling philosopher – 2022-06-08

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