Psychologie von C. G. Jung: Einige Begriffe

Die Psychologie von Jung basiert auf der Anerkennung der Realität alles Psychischen. Für Jung ist die Psyche des Menschen nicht weniger real als sein Körper, auch wenn diese nicht direkt tastbar ist, ist sie unmittelbar erfahrbar. Die Psyche existiert in einer eigenen Welt, unterliegt eigenen Gesetzen und beherbergt eigene Ausdrucksmittel. Die Realität der Psyche war nicht immer selbstverständlich. Ihr wahres Wesen wurde oft vom Religiösen, Philosophischen oder Naturwissenschaftlichen abgeleitet. Dagegen bezeichnet Jung die Psyche als ein uns gegebenes Organ oder ein Medium zum Erfassen und Erfahren von Welt und Sein.

Dies steht im Gegensatz zu der Ansicht, die die Psychologie als eine reine Naturwissenschaft betrachtet. Für Jung ist die moderne Psychologie eine interdisziplinäre Wissenschaft. Sie hat ein Standbein in den Naturwissenschaften, was den Gegenstand der Untersuchung und Methoden angeht, d. h. das Biologische im Menschen, das andere in den Geisteswissenschaften was die Erklärungsweise angeht, d. h. das „Kultürliche“ des Menschen. ([1], s. 11) Die Realität des Psychischen ist allerdings weder mit Psychologismus, noch Psychismus noch mit Panpsychismus gleichzusetzten. Psychologismus versucht, alle Wege des Wissens auf das Psychische zu reduzieren, Psychismus behauptet, dass die gesamte Wirklichkeit psychischer Natur ist, und Panpsychismus, dass alles Existierende psychischer Natur ist.

Mit seiner Psychologie versucht Jung, die krankmachenden Gründe zu untersuchen. Für ihn ist die Psychologie eine empirische, aber vor allem praktische Wissenschaft, die das Ziel hat, Menschen zu „helfen“. Die Psychologie soll weder eine theoretische Wissenschaft sein noch um der Forschung willen betrieben werden. Die Wissenschaft sei ein Nebenprodukt Jungs Psychologie, nicht ihre Hauptsächliche Absicht. ([1], s. 13-14) Jung ist allerdings der Ansicht, dass es für eine Gesamttheorie, die psychische Phänomene zentral erfasst, noch sehr früh sei. Er möchte betonen, dass es sich bei seinen Theorien nicht um ein doktrinäres System handelt, sondern um Versuche eine neuartige Psychologie zu entwickeln, die auf unmittelbare Erfahrung am Menschen basiert. Diese Psychologie soll dabei die Gesamtheit der menschlichen Psyche beschreiben, aber auch pathologische Elemente enthalten. Sie soll allerdings keine reine Lehre von psychischen Störungen sein. ([1], s. 11) Jung ist der Auffassung, dass neben der Psychologie auch theologische, historische und physikalische Aspekte für eine Erforschung von Seinswahrheiten herangezogen werden können. Diese seien z. T. auswechselbar, er möchte aber nur den psychologischen Standpunkt vertreten, dabei überlässt er die anderen Gebiete den entsprechenden Experten.

Unter der Psyche versteht Jung die Gesamtheit aller psychischen Vorgänge, d. h. sowohl die bewussten (z. B. den Geist (1)) als auch die unbewussten Vorgänge. Bewusstsein und das Unbewusste sind zwei gegenseitig sich ergänzende, aber in ihren Eigenschaften gegensätzliche Sphären der Psyche. Diese Sphären verhalten sich komplementär und kompensatorisch zueinander.

Das Bewusstsein und das Unbewusste

Das Bewusstsein ist nur ein kleiner Teil der Psyche, ein Produkt der späten Differenzierung in der Geschichte der Menschheit. Das Unbewusste ist somit viel älter als das Bewusstsein. Im Zentrum des Bewusstseinfeldes befindet sich das Ich, das gleichzeitig das Subjekt des Bewusstseins ist. Das Bewusstsein unterhält die Beziehung der psychischen Inhalte zum Ich, sodass alle Erfahrungen der äußeren und inneren Welt durch das Ich hindurch gehen, damit sie wahrgenommen werden, ansonsten bleiben sie unbewusst. ([1], s. 20-21)

Da das Bewusstsein nicht immer alle Inhalte parat halten kann, ist es umgeben von unbewussten Inhalten, worauf es jederzeit zugreifen kann. Diese Inhalte können u. a. Vergessenes, Verdrängtes, unterschwellig (subliminal) Wahrgenommenes, Zurückgestelltes, Gedachtes und Gefühltes aller Art sein. Diesen Bereich nennt Jung das persönliche Unbewusste, um ihn von dem Bereich des kollektiven Unbewussten zu unterscheiden. Im Bereich des kollektiven Unbewussten befinden sich Inhalte, die nicht persönlich erworben wurden, sondern womöglich geerbt sind. Diese geerbten Inhalte sind teilweise menschlich, teilweise sogar tierisch. ([1], s. 21-22)

Das Unbewusste ist der Niederschlag der typischen Reaktionsweisen der Menschheit in Situationen allgemein menschlicher Natur, ohne Rücksicht auf historische, ethnische oder andere Differenzierungen. Es sind zum Beispiel Reaktionen auf Situationen wie Angst, Gefahr, Geburt, Tod, Hass, Liebe, mütterliche und väterliche Gestalten etc. Während das Bewusstsein eine dem Außen angepasste Reaktion auf eine Situation bewirkt, präsentiert das Unbewusste eine vom Innen stammende Reaktion. Indem das Unbewusste dem Bewusstsein eine passende Reaktion gegenüberstellt, ermöglicht es eine total-psychische Haltung. ([1], s. 22)


Es ist schwierig, das Unbewusste in Bereichen bzw. Zonen zu unterteilen. Für Jung besteht die ganze Psyche aus einer Bewusst-Unbewusst-Ganzheit, in der sich die Grenzen ständig verschieben. Grob kann man sich vorstellen, dass das Unbewusste das Bewusstsein von allen Seiten schalenweise umschließt. Das Unbewusste kann man in zwei Bereiche unterteilen: das persönliche und das kollektive Unbewusste. Will man die Vorstellung verschiedener Schichten weiter verwenden, so bilden Vergessenes und Verdrängtes die ersten zwei Lagen, d. h. die ersten zwei Bereiche des persönlichen Unbewussten. Diese stehen mehr oder weniger dem Individuum zur Verfügung.


Tiefer in der Psyche oder weiter entfernt vom Bewusstsein und im Bereich des kollektiven Unbewussten besteht die oberste Schicht aus Emotionen und Affekten. Diese können möglicherweise noch Kontrolle über den Menschen ausüben. Die weiteren Schichten des Unbewussten sind Inhalte, die aus dem tiefsten Bereich des Unbewussten hervorbrechen. Es handelt sich um autonome Inhalte, die niemals mit dem Ich identifiziert werden können.
Schließlich ist die unterste Schicht des kollektiven Unbewussten jener Bereich, der nicht bewusst gemacht werden kann. Es handelt sich dabei um das „Unergründliche“, eine „gewaltige geistige Erbmasse der Menschenentwicklung“, der „überpersönliche Mutterboden“ oder jene „zentrale Kraft“, aus der sich die Einzelpsychen entwickelt haben. Wie Schnee auf den Boden, schlägt die menschliche Erfahrung seit jeher über diesen Urgrund nieder. Weiter in die Höhe entwickeln sich die Einzelpsychen der Individuen. ([1], s. 46-47)

Psychische Funktionen

Für Jung ist eine psychische Funktion eine psychische Tätigkeitsform, die unter verschiedenen Umständen sich prinzipiell nicht verändert. Es ist z. B. nicht wichtig, was man denkt, sondern dass man denkt. Wichtig sind daher nicht die Inhalte, sondern der Erfahrungs- oder Verarbeitungsmodus. ([1], s. 23)

Die Funktionen des Bewusstseins sind Denken, Fühlen, Intuieren und Empfinden. „Denken ist […] jene Funktion [des Bewusstseins], welche vermittels […] begrifflicher Zusammenhänge und logischer Folgerung […] zum Verstehen der Gegebenheiten der Welt und zur Anpassung an sie zu gelangen sucht.“ ([1], s. 23)

Die gegensätzliche Funktion zum Denken ist das Fühlen, das mit Begriffen wie angenehm und unangenehm arbeitet. Sowohl Denken als auch Fühlen sind wertende Funktionen, daher werden sie als rationale Funktionen zusammengefasst. Denken arbeitet mit Begriffen wie wahr und falsch, das Fühlen mit angenehm und unangenehm, Lust und Unlust etc. Diese zwei Grundhaltungen schließen sich gegenseitig aus, sodass entweder die eine oder die andere im Menschen vorherrscht. ([1], s. 24)

Die anderen zwei Funktionen des Bewusstseins sind Empfindung und Intuition. Dabei handelt es sich zwar um wahrnehmende, aber irrationale Funktionen, da diese nicht wertend agieren, sondern ohne Sinnverleihung arbeiten. Die Empfindung nimmt Dinge so wahr, wie sie sind, im Detail und in Einzelheiten, wobei die Intuition mehr einer inneren Wahrnehmung gleicht, die den inneren Sinn des Geschehens und die Zusammenhänge wahrnimmt. Betrachtet man eine Landschaft, nimmt die Empfindung die Einzelheiten wahr, wie die Farbe der Bäume etc., während die Intuition die gesamte Stimmung wahrnimmt. ([1], s. 24)

Menschen sind zwar zu allen Funktionen fähig, womöglich basierend auf individueller Anlage nutzt allerdings jeder Mensch hauptsächlich eine der Grundfunktionen seines Bewusstseins. Diese Funktion entwickelt und differenziert sich am stärksten und wird daher auch die superiore Funktion genannt. Sie gibt dem Bewusstsein eine Richtung oder Qualität und bestimmt den Typus des Individuums. ([1], s. 23-24)

Von den Funktionen des Bewusstseins stellt die Hauptfunktion den Bereich dar, der am meisten vom Unbewussten entfernt ist. Eine zweite relativ differenzierte Hilfsfunktion steht dem Individuum ebenfalls noch zur Verfügung, während die dritte noch seltener und die vierte inferiore Funktion dem Individuum praktisch nie zur Verfügung steht. Die inferiore Funktion ist charakterisiert durch Unberechenbarkeit, Autonomie und Unzuverlässigkeit, weil sie mit dem Unbewussten vermischt ist. Sie ist triebhaft und infantil. Sollten Umstände die vierte inferiore Funktion bewusst machen, kommen mit ihr zusätzlich undifferenzierte Inhalte zum Tragen. ([1], s. 28)

Theoretisch wäre es möglich, dass alle vier Funktionen differenziert sind. Praktisch ist es kaum erreichbar, wobei es denkbar wäre, dass Menschen ihre Funktionen nacheinander bis zu einem gewissen Grad differenzieren. Die vier Funktionen kommen in der Realität nie rein vor, es wird immer eine Mischung geben. Die Mischung aus Denken und Empfinden erzeugt das empirische Denken, während die Mischung aus Fühlen und Intuieren das intuitive Fühlen hervorbringt. Die Komplementarität bzw. das kompensatorische unter den Funktionen bleiben aber erhalten. ([1], s. 28-29)

Als eine der Ursachen von psychischen Spannungen vor allem in der zweiten Lebenshälfte sieht Jung die Überdifferenzierung der superioren Funktion. ([1], s. 30) Es ist hier zu betonen, dass zu wenig differenzierte Funktionen genauso schädlich sein können wie das Ungleichgewicht, das durch die starke Differenzierung einer Hauptfunktion verursacht werden kann. Es kann nämlich passieren, dass das Individuum gar keine der vier möglichen Funktionen entwickelt hat. Dies ist bei Kindern so und spätestens mit dem Ende der Adoleszenz in der Regel nicht mehr der Fall. Sollte aber dieser Zustand doch weiter bestehen, hat man es mit einem infantilen bzw. kindlichen Individuum zu tun, das möglicherweise eine starre konventionelle Maske aufgesetzt hat, hinter der seine unterentwickelte Psyche verborgen bleibt. Diese bricht in schwierigen Lebenssituationen heraus und führt zu Komplikationen. ([1], s. 33)

Einstellungstypen

Charakteristisch für Menschen zählt Jung zusätzlich zu den Funktionstypen noch die psychologischen Einstellungsweisen bzw. den Einstellungshabitus. Dabei unterscheidet er zwischen Extraversion und Introversion, die unabhängig von den Funktionstypen die Psyche des Individuums beschreiben können ([1], s. 30). Zusammen mit den vier Grundfunktionen bilden die beiden Einstellungstypen einen 8-seitigen Kompass, mit dessen Hilfe die Psyche beschrieben werden kann. ([1], s. 38)

Der Extravertierte richtet sich mehr nach außen, denkt und fühlt in Bezug auf das Objekt, während bei dem introvertierten Menschen das Subjekt der Ausgangspunkt der Reaktion ist. Introversion und Extraversion zeigen für Jung die Richtung der psychischen Energie. Extraversion und Introversion verhalten sich ebenso kompensatorisch wie die Funktionstypen der Psyche. Der gegensätzliche Einstellungshabitus ist also in jedem Menschen vorhanden. Durch seine bewusste Annahme und Entwicklung kommt der Mensch nicht nur ins Gleichgewicht, sondern versteht seine Mitmenschen besser. ([1], s. 32)

Der Einstellungshabitus vermischt sich bzw. ist in untrennbarer Verbindung mit den Funktionstypen. So kann es passieren, dass die Introversion eines extravertierten Denktypus sich in erster Linie mit der Funktion „Fühlen“ vermischt. Da die minderwertige Funktion sich praktisch gänzlich im Unbewussten befindet, ist oft davon die Rede, dass das Unbewusste eines Extravertierten introvertiert und daher auch triebhaft ist. Es kann z. B. sein, dass die unbewussten Gegenstücke ins Bewusstsein hineindringen, sodass der sonst mit der Welt in Einklang stehende Mensch plötzlich misstrauisch gegenüber der Welt wird, sich isoliert fühlt und überall Feindschaft spürt ([1], s. 31)

Das Bewusstsein und damit die Hauptfunktion formen sich hauptsächlich in der ersten Lebenshälfte, während die Auseinandersetzung mit der minderwertigen Funktion, d. h. mit dem Unbewussten, normalerweise eine Aufgabe für die zweite Lebenshälfte darstellt. Ähnlich ist es bei dem Einstellungstypus. Der Einstellungstypus hilft dem Individuum am Anfang des Lebens bei der Bewältigung der Anforderungen der Außenwelt. In dieser Phase findet sich das Individuum am besten mit seinem Einstellungstypus in der Welt zurecht. In seiner ersten Lebenshälfte bewegt sich ein Extravertierter leichter im Leben als ein Introvertierter. Die Situation ändert sich für beide in der zweiten Lebenshälfte. Die Einseitigkeit ist ein großes Problem für beide Einstellungsweisen. Denn „die vernachlässigten Funktionen und der nicht gelebte Einstellungshabitus revoltieren, sie fordern gleichsam ihren Platz […] und erzwingen ihn, wenn es nicht anders geht, durch eine Neurose“ ([1], s. 34)

Weder Introversion noch die Extraversion ist der korrekte oder bessere Einstellungstypus. Beide haben ihren Platz in der menschlichen Entwicklung und spielen eine große Rolle für das Individuum und die Menschheit. Obwohl sie für längere Zeit oft unverändert bleiben, können sich Introversion und Extraversion auch abwechseln, entweder innerhalb der Lebenszeit eines Individuums, z. B. eine extravertierte Pubertät vor einer introvertierten Adoleszenz, aber auch in Epochen, z. B. das introvertierte Mittelalter. ([1], s. 38)

Eine vollständige Ganzheit, d. h. die Bewusstwerdung der gesamten Psyche, kann in Idealform kaum erreicht werden. Wünschenswert wäre aber zumindest die Bewusstwerdung der eigenen oberen drei Funktionen, die Einstellungsweise und vielleicht noch einige Aspekte der minderwertigen Funktion aus den Tiefen des Unbewussten. Der „Lebensmittag“ ist ein letzter „Aufruf“, der dem Individuum ein Zeichen gibt, seine Psyche möglichst „abzurunden“, bevor der „Lebensabend“ erreicht ist. (s. 36)

Persona

Es wurde schon erwähnt, dass das Ich sich im Zentrum des Bewusstseinsfeldes befindet. Das Ich ist allerdings von einer Hülle umschlossen, durch die es mit der Außenwelt in Berührung kommt. Diese Hülle nennt Jung die Persona. Es handelt sich dabei um den Ausschnitt des Ichs, der der Umwelt zugewandt ist. Die Persona ist wie eine elastische Schutzhülle für das Ich, ein Kompromiss zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. ([1], s. 39)
Eine richtig funktionierende Persona muss drei Faktoren berücksichtigen: erstens das Ich-Ideal bzw. das eigene Wunschbild, zweitens das Menschenideal aus der Sicht der Umwelt und drittens die psychischen und physischen Bedingtheiten, die den beiden anderen Idealen ihre Grenzen setzt. Daher gehören zu der Persona nicht nur psychische Eigenschaften, sondern auch Umgangsformen, Haltungen, Gang, Haartracht, Kleidung etc. dazu. Bleiben einige dieser Faktoren außer Acht, so wird die Persona einseitig, oder erstarrt sogar zu einer festen Maske, hinter der sich das Individuum versteckt. Ein Beispiel wäre die Identifikation mit dem Amt und Titel, die das Individuum dazu zwingt, nichts anderes zu sein als das, was ihm die Gesellschaft zugebilligt hatte. ([1], s. 40)

Das Bewusstsein kann über eine gesunde Persona relativ frei verfügen, sie anpassen, verändern oder je nach Situation auswechseln, z. B. wenn der Mensch zu einer Hochzeit geht, oder mit einem Steuerbeamten spricht etc. Kommt es zu einer dauerhaften Fehlanpassung, z. B. durch Elterndruck, kann die Persona undurchdringlich werden oder sogar fest anwachsen. Je mehr das Ich sich mit der fehlangepassten oder verhärteten Persona identifiziert, desto undifferenzierter und verdrängter bleibt alles Innere der Persönlichkeit. Eine gesunde Psyche ist daher nur durch eine flexible und ausgeglichene Persona möglich, sodass die Förderungen der Außenwelt ordentlich bewältigt werden können, aber gleichzeitig eine gesunde Entwicklung der Persönlichkeit ermöglicht werden kann. ([1], s. 40-42)

Komplexe

Der eigentliche Inhalt des Unbewussten kann nur mittelbar in Form von Symbolen, Komplexen, Bildern etc. bewusst gemacht werden. Ein Symptom ist ein „Stauungsphänomen eines gestörten Energieablaufs“. Es kann sich somatisch (körperlich) oder psychisch zu erkennen geben. Komplexe sind für Jung dagegen Gruppen von psychischen Inhalten, die sich vom Bewusstsein getrennt haben und autonom funktionieren, ein Sonderdasein im Unbewussten führen und von dort aus das bewusste Leben positiv oder negativ beeinflussen können. ([1], s. 48) Komplexe stellen das Konflikthafte, das Unvereinte oder das Unerledigte dar. Sie bestehen aus einem bedeutungstragenden Kernelement und den damit verbundenen Assoziationen. Indem Komplexe ins Bewusstsein hinein brechen, ergreifen sie das Individuum und bleiben wie ein Fremdkörper im Bewusstsein. Komplexe können im Leben zu Hindernissen werden, gleichzeitig aber auch Anreize zu größeren Anstrengungen und möglicherweise zu neuen Erfolgen sein. Von der Ich-Perspektive des Individuums betrachtet, können Komplexe gesund oder schädlich sein. Eine der häufigsten Ursachen von Komplexen ist der moralische Konflikt, der keineswegs auf das Sexuelle beschränkt ist. Ein Trauma oder Schock kann ebenso Komplexe verursachen, entweder aus frühkindlichen oder aktuellen Ereignissen heraus. ([1], s. 50)

Archetypen

Archetypen sind für Jung Urbilder aus dem kollektiven Unbewussten, sie haben einen dominierenden funktionalen Charakter für das gesamte psychische Leben. Jung unterscheidet zwischen dem Archetypen an sich und dem realisierten, wahrnehmbar gewordenen und ins Bewusstsein eingetretenen Bild. Archetypen können die Eigenschaften der gesamten Menschheit oder einer kleineren Gruppe von Menschen veranschaulichen. ([1], s. 50) Sie sind die eigentlichen unsichtbaren Wurzeln des Unbewussten oder der vererbten Modi der psychischen Funktionen, die instinktive Reaktionen auf bestimmte Situationen darstellen. Von außen betrachtet sehen Archetypen manchmal wie biologische Verhalten aus, also die Art und Weise, wie Vögel und Fische, aber auch Menschen bestimmte Verhaltensmuster zeigen. Subjektiv betrachtet sind sie Erlebnisse von fundamentaler Bedeutung. Archetypen, verkleidet in Symbolen, können das Individuum in den Zustand der Ergriffenheit versetzen. ([1], s. 52)

Jung versucht anhand von Analogien, Archetypen zu beschreiben, er betont dabei allerdings, dass Erklärungsversuche bestenfalls Übersetzungen in andere Bildsprachen sind. Dennoch helfen Analogien, um Archetypen besser zu verstehen. Veranschaulichen kann man sich die Archetypen als Urmuster menschlichen Verhaltens oder zum Bild gewordene psychische Abläufe, die dem kollektiven Unbewussten inhärent sind. Daher existieren Archetypen noch vor dem Individuum. Der Archetypus kann in verschiedenen psychischen Ebenen auftauchen. Die Gestalt, die Grundstruktur und Bedeutung des Archetypus bleiben, der Inhalt verändert sich je nach Lage und Situation. In tieferen Bereichen des Unbewussten sind Archetypen verschwommen, unpersönlich, allgemein und ihre Darstellungssprache einfach. Dagegen ist der Inhalt eines aktualisierten Archetypus detaillierter je persönlicher und konkreter das jeweilige Problem ist. Daher erlauben die noch nicht detaillierten, sozusagen primitiven Archetypen eine Vielfalt von möglichen weiteren Archetypen und deren Aktualisierungen. Als Beispiel kann man den Archetypus „Mutter“ nennen, der als Urbild einer Mutter alle Aspekte des „Mütterlichen“ versinnbildlichen kann, darunter ganz abstrakte Begriffe aus der Natur (wie Nacht, Meer, Erde und Kuh etc.) und Mythologie, bis hin zur Großmutter und letztlich leiblichen Mutter. Wie jeder andere Archetypus hat der Mutter-Archetypus eine bestimmte Aufgabe und daher zählt er zu den wichtigsten Archetypen aus dem Unbewussten. Er spielt nämlich eine große Rolle bei der Entstehung des Bewusstseins. ([1], s. 57)

Da sie alle Teil des kollektiven Unbewussten sind, haben archetypische Bilder in allen Kulturen dieselben Motive. Diese findet man in allen Religionen und Mythologien, in Märchen und Geschichten: der wandernde Held, Kampf mit Drachen, jungfräuliche Geburt und Verrat, um einige Beispiele zu nennen. Aktualisiert begleiten diese Archetypen das Individuum in einer Art „Individualmythologie“ durch sein Leben. ([1], s. 57)

Archetypen sind für Jung Inhalte des kollektiven Unbewussten und gelten damit als Urquelle der gesamtmenschlichen Erfahrung, die Summe aller latenten Aktivitäten der menschlichen Psyche. ([1], s. 58) Sie können für die Psyche Schutz- und Heilbringer sein, oder Quelle von Neurosen und Psychosen, indem sie sich ähnlich wie vernachlässigte Körperorgane verhalten. Sie sind in allen Religionen der Erde präsent und wirken auf die Psyche immer noch mit elementarer Gewalt, auch wenn sie manchmal durch ein Dogma verzerrt sind. ([1], s. 59) Das Ziel der Jung’schen Psychologie ist, „die lichte Bewusstseinsseite zur dunklen des Unbewussten wissend und wollend“ zurückzuverbinden und damit in einer Ganzheit, den modernen Menschen von der Verwirrung zu befreien. ([1], s. 60)

Heute existieren in vielen Bereichen der Wissenschaft und Technik Begriffe, die einfacher zu verstehen sind und vielleicht für die Veranschaulichung des Konzepts des Archetypus verwendet werden können. Aus der Biologie kennt man z. B. die Stammzellen, die noch undifferenziert sind, aber sich in den jeweiligen Körpergeweben in verschiedene Zelltypen ausdifferenzieren können.
In dem veröffentlichten Briefwechsel zwischen Jung und dem Physiker Wolfgang Pauli wird der Begriff des Archetyps mit physikalischen Naturgesetzen und der Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines physikalischen Ereignisses in Verbindung gebracht:

„Ihr Gedanke, dass dem Archetypus der Wahrscheinlichkeitsbegriff der Mathematik entspricht, war mir sehr einleuchtend. Tatsächlich stellt der Archetypus nichts anderes als die Wahrscheinlichkeit des psychischen Geschehens dar. […] Sie haben unter diesen Umständen alles Recht für sich, wenn Sie eine neue Fassung des Archetypus-Begriffs fordern. Mir scheint, dass der Weg zu diesem Ziel über die Analogie Archetypus-Wahrscheinlichkeit führt. Physisch entspricht die Wahrscheinlichkeit dem sog. Naturgesetz, psychisch dem Archetypus.“

([2], Brief Jung an Pauli, Januar 1951)

Der Vergleich liegt zwar nicht direkt auf der Hand, der Versuch den Sinn dahinter zu verstehen, könnte sich allerdings als wertvoll erweisen. Denn Naturgesetze sind gegebene Muster oder Versammlungspunkte der natürlichen Geschehen; wenn man so will, haben sie unscharfe Kanten, die der physikalischen Natur zugrunde liegen. Deutlicher wird es, wenn es sich um die Wahrscheinlichkeit eines physikalischen Geschehens handelt, wie es oft bei Quantensystemen der Fall ist, z. B. die Halbwertszeit radioaktiver Isotope, die sich aufgrund der Energieunschärfe als spektrale Linienbreite manifestiert.

Für eine weitere Veranschaulichungsmöglichkeit kann man sich dem Konzept der Klassen aus der Informatik bedienen. In objektorientierten Programmiersprachen definieren Klassen wie Blaupausen oder Schablonen eine bestimmte Bedeutung, einen Sinn oder eine Gruppierung von Eigenschaften. Je allgemeiner die Klasse, auch bekannt als „abstrakte Klasse,“ oder im Extremfall ein „Interface“, desto undifferenzierter kann sie sein. Von undifferenzierten Klassen können weitere konkretere Klassen abgeleitet werden, d. h. von ihnen „erben“. Das sind allerdings immer noch Klassen und noch keine konkreten Entitäten, die ein laufendes Computerprogramm ausmachen. Diese werden sie erst, wenn sie im Computerspeicher „instanziiert“ werden; sehr ähnlich wie das, was Jung unter „Aktualisierung“ eines Archetypen versteht. Diese konkreten Instanzen, manchmal auch „Objekte“ genannt (daher die Bezeichnung „objektorientierte Sprachen“), verweilen im Computerspeicher während der Laufzeit des Programms mit jeweils unterschiedlichen Konstellationen und Inhalten, interagieren miteinander und ermöglichen so letztendlich die Funktion des Programms.

Die Libido

Für Jung verfügt die Psyche über eine dynamische Struktur, sie ist ein System, in dem eine Art psychische Energie, die er Libido nennt, alle psychischen Formen und Tätigkeiten ermöglicht. Die Libido ist analog zum Konzept der Energie in der Physik zu betrachten, aber niemals mit ihm gleichzusetzen. Wie die Energie kann die Libido niemals allein in Erscheinung treten, sondern kann nur potenziell oder aktuell in Erfahrung gebracht werden. Aktualisierte psychische Energie erscheint als psychische Bewegung und Kraft, als Trieb oder Wunsch etc. und potenzielle psychische Energie als Möglichkeiten und Bereitschaften. ([1], s. 63)

Für Jung gibt es kein Gleichgewicht in einem System ohne Gegensätze. Und da die Psyche auch ein selbstregulierendes System ist, ist sie von Gegensätzen geprägt. Die Kräfte der Psyche sind im ständigen Wechsel. Jede Kraft läuft in ihr Gegenteil hinein. Alle Funktionen der Psyche, die Einstellungsweisen, die Beziehung des Unbewussten zum Bewusstsein etc., sind zueinander kompensatorisch bzw. komplementär. Diese Relationen werden durch die Bewegungen der psychischen Energie unter ständiger lebendiger Spannung erhalten. Die Libido kann sich ähnlich wie die physikalische Energie verlagern, und zwar von einem höheren psychischen Potential zu einem niedrigeren, sie kann also zwischen zwei Gegensatzpaaren hinabfließen. Dabei sinkt die Energie des Bewusstseins, gleichzeitig steigt aber die Energie des Unbewussten. Die neugewonnene Energie kann Inhalte aus dem Unbewussten ins Bewusstsein schleudern und damit Neurosen verursachen. ([1], s. 66)

Der Austausch der psychischen Energie zwischen Gegensatzpaaren findet erneut Analogien in der Physik, konkret im zweiten Satz der Thermodynamik bzw. der Entropie. Der Zustand des maximalen Gleichgewichts entspricht der maximalen psychischen Entropie, die sich desto mehr bemerkbar macht, je stärker die Gegensatzpole auseinander sind. Die Verlagerung der Energie kann außerdem durch einen gerichteten Willensakt erzielt werden. Das Bewusstsein ist daher imstande, den irreversiblen Ausgleich umzukehren. ([1], s. 67)

Die Bewegung der psychischen Energie kann entweder progressiv oder regressiv sein. Die progressive Bewegung ist jene Bewegung, die vom Bewusstsein ausgeht und die Anpassungen an bewusste Lebensforderungen ermöglicht, also eine Anpassung nach außen. Regression entsteht durch die Intensivierung des Unbewussten, sie stellt eine Anpassung nach innen dar. Diese kann u. a. durch das Versagen der bewussten Anpassung entstehen oder durch Verdrängung. Sollte die Regression über längere Zeit überhand nehmen, so kann dies in extremen Fällen zu Neurosen und Psychosen führen. Progression und Regression sind beide gleich notwendige Erfahrungsformen für die Psyche. Beide füllen den Alltag eines Menschen, z. B. ist jede zielgerichtete Aufmerksamkeit eine Art Progression und jede Ermüdung oder Zerstreutheit eine Regression. ([1], s. 68)

Neben der zeitlichen Abfolge der psychischen Energie in Form von Regression und Progression ist die Wertintensität und Konstellation der Erscheinung der psychischen Energie von großer Bedeutung. Unter Wertintensität versteht Jung die Sinnladung oder den Bedeutungsgehalt der Bilder, die aus dem Unbewussten hervorkommen. Gleichzeitig beschreibt die Konstellation den Stellenwert innerhalb des gegebenen Kontextes. Das Muttersymbol kann einer Person in unterschiedlichen Intensitäten erscheinen. Für eine Person, die unter einem Mutterkomplex leidet, spielt das Symbol „Mutter“ eine besondere Rolle, als für eine Person, die unter einem Vaterkomplex leidet, denn für die erste Person erscheint das Muttersymbol in einer anderen Konstellation und daher mit einem anderen Stellenwert. ([1], s. 69)

Psychologie als Heilsweg

Die Psychologie von Jung hat einen medizinischen, heilenden Aspekt aber auch erzieherischen bzw. persönlichkeitsbildenden. Diese Aspekte können zwar, müssen aber nicht gleichzeitig in Anspruch genommen werden. Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass eine gehörige Portion subjektive Erfahrung in beiden genannten Aspekten involviert ist. Der Grund hierfür ist, dass allein durch theoretische Erklärung das Gedankengebäude Jungs nur bis zu einem gewissen Grade verstanden werden kann. Alles weitere bedarf persönlicher Erfahrung. Außerdem unterscheiden sich angewandte Methoden und ihre Intensität je nach Person und Lebenssituation. ([1], s. 74)

Für Sigmund Freud und Alfred Adler waren Lust- und Machprinzip bedeutende Triebfaktoren in der menschlichen Psyche. Für Jung ist der wichtigste Trieb, der übrigens nur bei Menschen vorkommt, das geistige und religiöse Bedürfnis. Mit anderen Worten: das Geistige erscheint in der Psyche als ein Trieb. Hier muss man beachten, dass für Jung Triebe nichts anderes sind als autonomes Funktionieren ohne bewusste Motivation. Zu beachten ist, dass das Geistige kein Derivat eines anderen Triebes ist, sondern ein Urprinzip und damit auch ein Gegenpol zu den natürlichen Trieben in der Psyche. Diese Gegenpole nennt Jung manchmal auch Natur und Geist. ([1], s. 75)

Das Finalitätsprinzip

Jung betont, dass die Psychologie nicht durch kausale Erklärungen verstanden werden kann, sie erfordert eine doppelte Betrachtungsweise, nämlich eine kausale und eine finale. Die Psyche ist für Jung zielstrebig. Er nennt diese immanente Zielstrebigkeit der Psyche die Finalität. Ein weiteres Mal wird so der Unterschied zwischen der Freud’schen und Jung’schen Psychologie sichtbar. Freud analysiert reduktiv, sucht Gründe in der Vergangenheit, Jung synthetisiert prospektiv aus der aktuellen Situation in Richtung der Zukunft. In einer Behandlung soll die Vergangenheit daher nicht wiedererlebt (wie bei der Freud’schen Methode), sondern die aktuelle Gegenwart erlebt werden. ([1], s. 80-81)

Die Jung’sche Behandlungsmethode ist eine dialektische Methode, bei der der Analytiker seine Anonymität und Passivität aufgibt und sich aktiv in eine gegenseitig unbewusste Beeinflussung einbringt. Diese steht wiederum im Gegensatz zu der Freud’schen Behandlungsmethode. Die Persönlichkeit des Arztes spielt eine wichtigere Rolle in der Jung’schen Behandlung als in anderen psychologischen Methoden. ([1], s. 81)

Fußnoten
  1. Geist nicht im religiösen Sinne wie zum Beispiel den Heiligen Geist und auch nicht im Sinne eines Gespenstes, sondern als die Fähigkeit des Menschen, die „das Wahrnehmen und Lernen ebenso wie das Erinnern und Vorstellen sowie Phantasieren und sämtliche Formen des Denkens (des „Verstands“ oder der „Vernunft“) wie Überlegen, Auswählen, Entscheiden, Beabsichtigen und Planen, Strategien verfolgen, Vorher- oder Voraussehen, Einschätzen, Gewichten, Bewerten, Kontrollieren, Beobachten und Überwachen“ ermöglicht. (Auflistung teilweise aus Wikipedia angepasst)
Referenzen
  • [1] J. Jacobi und C. G. Jung. Die Psychologie von C. G. Jung: eine Einf ü hrung in das Gesamtwerk . Stuttgart: Patmos, 2013. i s b n : 978-3-8436-0159-7.
  • [2] C. G. Jung und W. Pauli. Wolfgang Pauli und C. G. Jung – Ein Briefwechsel 1932–1958 . Hrsg. von C. A. Meier. Unter Mitarb. von Ch. P. Enz und M. Fierz. Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1992. Berlin Heidelberg: Springer-Verlag, 2014. 275 S. ISBN: 978-3-662-30377-1.

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© xaratustrah, the angling philosopher – 2023-01-29

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