Gnosis (engl. gnosis) ist nicht gleichzusetzen mit Gnostizismus (engl. gnosticism), auch wenn die beiden Begriffe im deutschen Sprachgebrauch oft gleichgesetzt werden. Bei dem Letzteren handelt es sich um verschiedene religiöse Lehren und Gruppierungen des 2. und 3. Jahrhunderts u. Z., bei dem Ersteren handelt es sich um einen der Wege des Wissens. Auch in der modernen Zeit existiert Gnostizismus als eine religiöse Bewegung, etwa wie in der Ecclesia Gnostica in Kalifornien, (1) aber auch als ein beliebtes Motiv in der Literatur und Populärkultur. Dennoch ist es nicht schwer zu erkennen, dass eine wesentliche Verbindung zwischen Gnosis und Gnostizismus existiert (hat), denn Gnosis als ein Weg zum inneren Wissen kann als erste Voraussetzung für alles andere im Gnostizismus betrachtet werden.
In einer Veröffentlichung von 2019 untersucht Arthur Versluis den Gebrauch des Gnosisbegriffs sowohl in der Wissenschaft (Psychologie und Bewusstseinsforschung) als auch in der Populärkultur. Dabei stellt er fest, dass der Begriff weit über seine enge Anwendung auf den historischen Zeitraum der Spätantike hinaus verstanden und verwendet wird und dass trotz der unterschiedlichen Verwendungskontexte überall ein ähnliches Muster erkennbar ist. Von der antiken und modernen Religionsforschung bis zu den buddhistischen Texten findet der Begriff der Gnosis eine Verwendung. In seinem Artikel schlägt er daher ein kognitives Modell zum Verständnis der Gnosis vor, mit dem er diese Gemeinsamkeit zu erklären versucht. Dieses Modell skizzieren wir kurz im Folgenden.
Für Versluis ist Gnosis nicht nur ein geheimes Wissen, sondern eine Art nicht reduktives Wissen, das vernünftige und dualistische Formen des Wissens transzendiert. Gnosis ist der Vernunft nicht entgegengesetzt und deshalb auch nicht irrational. Das gnostische Wissen ist ein Wissen, das dualistische Gegensätze, vor allem den Dualismus zwischen Selbst und Anderen, bzw. zwischen dem Objekt und Subjekt transzendiert. ([3], s. 82) Gnosis ist sozusagen eine Vereinigung zwischen dem Objekt und dem Subjekt. ([3], s. 95), genauer gesagt, die Art von Wissen, die durch diese Vereinigung zustande kommt. Versluis präsentiert einige Zitate aus den Werken zeitgenössischer Autoren, um diese These zu unterstützen, darunter Edward Conze, Theodore Roszak, Carl G. Jung, Andrew Newberg, April DeConick, Peter Carroll, Andrieh Vitimus, Ken Wilber und Christopher Bache, bei denen der Begriff von Gnosis mit seiner Definition vereinbar ist.
Versluis unterteilt Gnosis in zwei Arten: kosmisch und transzendent bzw. metaphysisch. Kosmische Gnosis geht für Versluis mit weltlichen oder profanen Zielen einher, mit anderen Worten: sie hat bestimmte Ziele oder Zwecke. Metaphysische Gnosis dagegen entspricht der (via negativa) Mystik. Beiden gemeinsam ist die Vereinigung zwischen Objekt und Subjekt, d. h. die Aufhebung oder Transzendenz von Dualismen. Diese Aufhebung ist bei beiden die Grundlage, allerdings ist sie bei der metaphysischen Gnosis viel stärker ausgeprägt als bei der kosmischen. Die Transzendenz des Subjekt-Objekt-Dualismus ist bei der kosmischen Gnosis zweckgebunden, ein Mittel zum Zweck sozusagen, während sie in der metaphysischen Gnosis ein Ziel für sich ist. Was die metaphysische Gnosis als Folge mit sich bringt, entzieht sich (per Definition) jeder Beschreibung, es sei denn, die äußeren Resultate, wie das Empfinden von Glück, Freude, Frieden etc. werden genannt. Versluis schlägt daher vor, die kosmische und die metaphysische Gnosis als Enden eines Spektrums zu betrachten, in dem Gnosis, d. h. die Vereinigung des Objekts und Subjekts, dessen Skala entspricht. ([3], s. 86) Auf diesem Spektrum befindet sich das nichtduale Wissen, d. h. das innere bzw. esoterische Wissen, wobei es sich weiter unten weniger oder nur teilweise transzendental darstellt als weiter oben.
Als Beispiele für die kosmische Gnosis nennt Versluis verschiedene magische oder heilbringende Praktiken, die in verschiedenen Kulturen für konkrete Ziele eingesetzt werden. Der Wunsch nach mystischen Zuständen als Beispiel für die metaphysische Gnosis ist ebenso in allen Religionen und Zeiten vorhanden gewesen. Auf dieser Skala platziert Versluis auch einige der esoterischen Praktiken, wie z. B. Alchemie oder Magie bis hin zur Mystik. Für Versluis finden selbst die Überzeugungen und Praktiken des pessimistischen (auch bekannt als anti-kosmischen) Gnostizismus einen Platz am unteren d. h. relativ gesehen am mehr dualistischen Ende der gnostischen Skala. ([3], s. 87) Der anti-kosmische Gnostizismus wurde bekannterweise von Hans Jonas kritisch betrachtet.
Unter den behandelten Autoren schenkt Versluis Jung eine besondere Aufmerksamkeit. Er untersucht den Gnosisbegriff in den Werken von Jung und notiert, dass im Jung’schen Kontext Gnosis mit der psychischen Integration einhergeht, oder anders ausgedrückt: es geht einher mit dem Prozess der Bewusstwerdung der psychischen Inhalte aus dem Unbewussten. Durch diese Bewusstwerdung entstehen Vereinigungen bzw. Aufhebungen der Dualismen. Als Resultat entsteht ein Mensch mit vollständiger Psyche, der innere und äußere Dualismen transzendiert. Diesen Prozess nennt Jung Individuation. Nur in diesem Zusammenhang kann man Gnosis, so wie Versluis sie beschreibt, und so wie wir sie in diesem Text beschreiben, mit den Werken von Jung in Verbindung bringen. Ansonsten, soweit sichtbar in seinen Werken, verwendet Jung den Begriff „Gnosis” gleichbedeutend mit Gnostizismus.
Gnosis als esoterisches Wissen
Der komplementäre Aspekt von esoterischem und exoterischem Wissen wird oft zugunsten des Letzteren vernachlässigt. Dies ist teilweise der Tatsache zuzuschreiben, dass Anwendungsgebiete der beiden Modi des Wissens voneinander nicht klar unterschieden werden. Es wird oft (und zurecht) behauptet, dass die Errungenschaften der Menschheit ohne externe Fakten und deren Verarbeitung im wiederholten Kreis der wissenschaftlichen Methode (Empirie, Induktion, Theorie, Deduktion) kaum möglich ist. Reproduzierbares Wissen, Normen und Standards, die wiederum die Grundlage für eine blühende menschliche Zivilisation bilden, können nur durch exoterisches Wissen fest verankert werden. Die unaufhörlichen Erfolge der Wissenschaft und Technik haben zur Folge gehabt, dass nach und nach reduktive Methoden sich als einziger Weg des Wissenserwerbs durchgesetzt haben, und somit wurden alternative, weniger objektive Methoden und damit auch die Menschen, die diese einsetzten, in ein zweifelhaftes Licht gestellt, bzw. verachtet. (2)
Dennoch blieben bestimmte Aspekte des Wissens unerreichbar, vor allem diejenigen, die höhere Erwartungen an die Objektivität des Zugangs zum Wissen stellten. Interessant war nicht nur die Frage, „Was ist eine Blumenvase?”, sondern auch die Frage, „Was ist diese Blumenvase für mich?”. Dieser objektive Zugang zum Wissen erhielt Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Phänomenologie eine Stimme in der Philosophie. Genauso wie Phänomenologie den ontologischen Zugang zum Wissen ergänzt hat, ergänzt das innere objektive Wissen das exoterisch reduktive Wissen um eine weitere Dimension, sodass zusammen ein möglichst vollständiges Bild der Welt entstehen kann.
Gnosis ist einer der Wege des Wissens, aber nicht der einzige. Durch die Transzendenz der Dualismen stellt Gnosis eine Art esoterischen Zugang zur Erkenntnis über die Welt dar und wirkt somit komplementär zum exoterischen, reduktiven, naturwissenschaftlichen Wissen. In dieser gemeinsamen Beschreibung erhält das evidenzbasierte (analytische) Wissen allerdings die Priorität. So weit wie möglich wird es eingesetzt, um Phänomene zu erklären, um die Welt zu beschreiben. Dort, wo es an seine Grenzen stößt, kann das esoterische Wissen eingesetzt werden, um ein möglichst vollständiges Bild zu erhalten. Diese Priorität ist mit dem unmittelbar physikalischen Aspekt unserer menschlichen Existenz verbunden, aber auch damit, dass die psychische Entwicklung der Menschen später eintritt als die physikalische. Das Gewicht eines Apfels mithilfe des Bauchgefühls zu bestimmen, statt es mit einer Waage in der Standardeinheit Kilogramm zu messen, ist daher genauso wenig zielführend, wie eine mystische Erfahrung in reproduzierbaren Fakten beschreiben zu wollen.
Die Wissenschaft schreitet voran und damit auch ihre Erklärungskraft. Hier ist zu beachten, dass der esoterische Ansatz neu überdacht werden muss. Sollte dies nicht geschehen, d. h. bleibt die esoterische Vorstellung hinterher, schreitet die Wissenschaft einseitig voran. Als Folge sind Aussagen wie „As science advances, there seems to be less and less for God to do.” [2], oder das berühmte Zitat von Nietzsche über den Tod Gottes [1] nicht überraschend. Esoterisches Wissen muss daher ständig aktualisiert werden, damit es im Einklang mit den Naturwissenschaften bleibt. Starre und veraltete Esoterik und Spiritualität können die ständigen Bedürfnisse der Menschheit nicht erfüllen. Eine vorwärtsgewandte und zukunftsorientierte Spiritualität muss her, eine die sich ständig verbessert und korrigiert.
Gnosis als inneres, transzendierendes Wissen steht stellvertretend für einen Zugang zur Erkenntnis, der sich auch dem dogmatischen Glauben entgegensetzt. Als eine Erkenntnisart ist der rein dogmatische Glaube exoterisch bzw. von außen gesetzt. Er wird dann zur Referenz für eine Gemeinsamkeit, die die Individuen in einer Gemeinschaft beschützen (retten?) soll, bzw. zur einer Schranke, innerhalb derer Menschen in einer gemeinsamen Richtung sicher gedeihen können. Wird der Glaube in einem sozialen Kontext zum Dogma, wird es für individuelle Erkenntnisse und maßgeschneiderte Spiritualität keinen Platz mehr geben. Der rein dogmatische Glaube ist insofern inkompatibel mit Gnosis, weil er für das Fortbestehen eine gemeinsame Referenz, die von außen gesetzt ist, braucht, sodass er letztendlich gegenüber dem Menschen in einer dualistischen Beziehung steht. Diese Inkompatibilität war und ist seit jeher die Quelle von religiösen Konflikten, vor allem dort, wo Religionen zu Institutionen etabliert bzw. vom Staatsapparat nicht zu trennen sind. Zahlreiche historische Ereignisse berichten über solche Konflikte rund um den Gnostizismus als religiöse Bewegung im 2. und 3. Jahrhundert. Ein anderes Beispiel ist die Unbeliebtheit der Sufi-Tradition im Mainstream-Islam.
Gnosis ist Transzendenz, d. h., es steht für die Aufhebung der Dualismen. Diese Transzendenz ist aber nichts anderes als die Bewusstwerdung des Dualismus in seiner Ganzheit. Nicht das Verfallen in die eine oder andere Seite ist das Ziel, nicht die einseitige, sondern eine vollständige Bewusstwerdung. Gnosis ist daher als esoterischer Modus des Wissens komplementär zu den Naturwissenschaften und generell zu exoterischem Wissen.
Dualismen sind als Gegenpole notwendig für das Fortbestehen des Lebens. Jung beschreibt die dynamische Psyche als ein ständiges Auf und Ab von psychischer Energie zwischen den Gegenpolen. Die psychische Energie, die Libido, kann nur zwischen diesen Polen definiert werden. Sowohl psychisch als auch physikalisch ist der Mensch umgeben von Dualismen. Während das exoterische Wissen in seiner reduktiven Art weitere Dualismen kreiert, transzendiert Gnosis diese durch die gleichzeitige Bewusstwerdung der Gegenpole. Das kann, wie bereits erwähnt, nur teilweise geschehen, wie in der kosmischen Gnosis, z. B. der Weg des Magiers, oder vollständig, wie in der metaphysischen Gnosis, z. B. der Weg des Mystikers. Weder der Weg des Naturwissenschaftlers, des Magiers noch des Mystikers ist besser oder schlechter als die anderen. Schlecht sind sie nur, wenn sie einem vollständigen Bild zum Hindernis werden, indem sie jeweils allein die Überhand nehmen. Wenn Naturwissenschaft, Magie und Mystik zusammenkommen, entsteht ein Wissen, das möglicherweise größer ist als alle drei.
Der Mikrokosmos der vollständigen Einzelpsyche findet hier im Makrokosmos sein Analogon. Sowohl das Kreieren als auch die Transzendenz der Dualismen ist notwendig für einen vollständigen Menschen. Diese Vollständigkeit wird oft in den Religionen als die gleichzeitige Immanenz und Transzendenz bezeichnet, ein Gedanke, der der Begrifflichkeit der Inkarnation sehr nahe steht.
Fußnoten:
- https://thegnosticsociety.org/
- Das zweifelhafte Licht, in das Menschen mit esoterischer Orientierung gestellt werden, kann auch mit der Psychologie von Jung erklärt werden. Denktypen sind in den allermeisten Fällen auch die Vorantreiber der Technik und Wissenschaft. Durch ihre womöglich stark differenzierte psychische Funktion haben sie im Vergleich zu den Menschen, bei denen die Hauptfunktion das Fühlen ist, weniger Zugang zu den Inhalten ihres Unbewussten. Diese sind wiederum Menschen, die möglicherweise weniger zum Fortschritt der Technik und Wissenschaft beitragen. Das Ziel der Jung’schen Psychologie ist daher das Erreichen einer vollständigen Psyche durch die (möglichst gleichzeitige) Bewusstwerdung aller Funktionen.
Referenzen:
- [1] Nietzsche, F. 2012. Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen (Reclams Universal-Bibliothek). Ditzingen: Reclam Verlag.
- [2] Sagan, C., and A. Druyan. 2007. The Varieties of Scientific Experience: A Personal View of the Search for God. Edited by S. Soter. New York: Penguin Books.
- [3] Versluis, A. 2019. “What Is Gnosis? An Exploration.” Gnosis: Journal of Gnostic Studies 4 (1): 81–98. https://doi.org/10.1163/2451859X-12340069.
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© xaratustrah, the angling philosopher – 2023-02-15