C. G. Jung und Gnostizismus

In seinem Essay „Gnostische Symbole des Selbst” bietet Jung eine psychologische Interpretation des Gnostizismus. In der gnostischen Symbolik findet er einige Parallelen zu psychischen Abläufen. Einige der gnostischen Symbole wie Magnet, Wasser, Fisch, Schlange, Kreis, Quaternität und Anthropos werden von Jung psychologisch untersucht. Darunter auch Konzepte wie das Bewusstsein und das Unbewusste. „Das gleiche Wissen, obschon zeitentsprechend anders formuliert, eignet auch den Gnostikern. Der Begriff des Unbewussten ist ihnen nicht fremd.” ((Jung 1989c), §298). Jung behauptet sogar, „aus verschiedenen Andeutungen Hippolyts(1) geht unzweifelhaft hervor, dass viele Gnostiker nichts anderes als Psychologen waren.”. Weiter schreibt er: „Die Gnosis [= hier: Gnostizismus] ist unzweifelhaft psychologische Erkenntnis, deren Inhalte dem Unbewussten entstammen. Sie gelangte zu ihren Einsichten durch eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf den sogenannten ‚subjektiven Faktor’,(2) welche empirisch in der nachweisbaren Einwirkung des kollektiven Unbewussten auf das Bewusstsein besteht. Daraus erklärt sich der überraschende Parallelismus der gnostischen Symbolik mit den Ergebnissen der Psychologie des Unbewussten.” ((Jung 1989b), §350)

Für Jung existiert also eine starke Verbindung zwischen gnostischen Symbolen und den Funktionen der Psyche. Ein Beispiel für diese Verbindung sind das Bewusstsein und das Unbewusste. Jung notiert, dass die Schöpfung eines ignoranten Demiurgs durch die Gottheit, der sich als alleiniger Herrscher der Welt betrachtet, die Entstehung des Ego-Bewusstseins aus dem Unbewussten symbolisiert. Er schreibt, dass das undifferenzierte Unbewusste analog zum Autopator zu betrachten ist, der Vater der „nicht nur selbst unbewusst und ohne Seinsqualität [ist], sondern auch […] gegensatzlos, das heißt qualitätslos uns infolgedessen unerkennbar. Damit ist der Zustand des Unbewussten geschildert. Der Valentinische Text (3) gibt dem Autopator positive Eigenschaften […]. In ihm war die ennoia (Bewusstheit) vorhanden […]. Das Vorhandensein von ennoia beweist nicht die Bewusstheit des Autopator, denn die Differenzierung des Bewusstseins ergibt sich erst aus den nachfolgenden Syzygien und Tetraden, die lauter Konjunktion- und Kompositionsvorgänge symbolisieren.” (§298) Jung findet noch weitere Analogien in den Texten Valentins. Der höchste Gott blickt auf die vom Demiurgen geschaffenen Menschen herab, weil sie so elend und unbewusst waren. So hat er das Werk der Erlösung begonnen. Der Wandel des Zustands des Unbewussten, d. h. agnoia bzw. agnosia wird als die zu büßende Sünde dargestellt. ((Jung 1989c), §299)

In Bezug auf die Polarität und Gegensätze findet Jung Analogien in der Theologie von Meister Eckhart. Jung schreibt, Meister Eckhart „kennt eine Gottheit, von der, außer der Einheit und dem Sein, keine Eigenschaft ausgesagt werden kann […], sie stellt eine absolute Koinzidenz der Gegensätze dar. […] Eine Vereinigung der Gegensätze ist gleichbedeutend mit Unbewusstheit, soweit menschliche Logik reicht, denn Bewusstsein setzt eine Unterscheidung und zugleich eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt voraus. Wo es kein ‚anderes’ gibt, oder noch nicht gibt, da hört die Möglichkeit des Bewusstseins auf. Erst der aus der Gottheit ‚erquickende’ Vater, der Gott nämlich, ‚bemerkt sich’, wird ‚sich bewusst’ und tritt als Person sich selbst gegenüber. So wird aus dem Vater der Sohn als des Ersteren Begriff seines eigenen Wesens. In seiner ursprünglichen Einheit ‚erkennt er nichts’ als das ‚überwirkliche’ Eine, das er ist. Wie die Gottheit essentiell unbewusst ist, so auch der Mensch, der in Gott lebt.” ((Jung 1989c), §301) Die gnostische Symbolik der Gottheit teilt die gleichen Eigenschaften des Unbewussten in der Psyche.

Gleichzeitig warnt Jung, dass diese Analogien letztendlich den Horizont der Psychologie nicht überschreiten können, sie können also nicht benutzt werden, um theologische Aussagen über das Wesen Gottes zu treffen. Für die Psychologie ist nur das Gottesbild erreichbar, nicht Gott selbst. Das Gottesbild dagegen ist eine empirische psychische Tatsache. Er schreibt: „Solche Aussagen über das Wesen Gottes stellen Wandelungen des Gottesbildes dar, welche den Veränderungen des menschlichen Bewusstseinszustandes parallel laufen, ohne dass man immer mit Sicherheit anzugeben wüsste, welches des anderen der Ursache ist. Das Gottesbild ist keine Erfindung, sondern ein Erlebnis, das sua sponte den Menschen antritt […]. Das (zunächst unbewusste) Gottesbild ist daher in der Lage, den Bewusstseinszustand zu verändern, wie auch dieser am (bewussten) Gottesbild seine Korrekturen anbringen kann. Selbstverständlich hat das mit dem veritas prima, dem unbekannten Gotte, nichts zu tun, das wir irgendwie nachweisen könnten.” ((Jung 1989c), §303) Er schreibt weiter: „Wenn sich nun die Psychologie dieses Phänomens bemächtigt, so kann sie diese nur tun, wenn sie ausdrücklich darauf verzichtet, metaphysische Urteile zu fällen […]. Was die Psychologie feststellen kann, ist einzig und allein das Vorhandensein bildhafter Symbole.”

Welche Symbole könnten das sein? Jung schreibt, dass es sich dabei oft um Symbole der Ganzheit handelt. Diese Symbole haben dabei nicht nur eine ganzheitliche Form, sie haben mit einiger Sicherheit auch die Bedeutung von Ganzheit. Sie sind meistens Ganzheitskonjunktionen einfacher (Zweiheit) oder doppelter Natur (Viertheit / Quaternionen), „sie entstehen aus dem Zusammenstoß des Bewusstseins mit dem Unbewussten und aus der hiervon verursachten Verwirrung”. Die Psychologie kann einerseits nur eine Verbindung zwischen der Ganzheit des Individuums und dem Ganzheitssymbol vermuten, andererseits finden Ganzheitssymbole in allen Weltreligionen als ein Symbol von Gottheit Verwendung. Der Kreis ist z. B. ein bekanntes Gottessymbol, aber auch das Kreuz. Solche Ganzheitssymbole haben einen numinosen Charakter. ((Jung 1989c), §304)

Ganzheitssymbole findet die Psyche auch im physikalischen Alltag. Abgeschlossene Abläufe oder vollständige Systeme, vor allem solche, die autonom funktionieren, erregen oft Aufmerksamkeit. Auch vollständige Werke, sei es in der Technik, der Kunst oder der Literatur, sind immer eine Quelle der Bewunderung. Ein detailliertes Uhrwerk zum Beispiel, in dem hunderte von mechanischen Teilen präzise ein vollständiges Ganzes bilden, kann lange betrachtet und bewundert werden. Die Schattenseite dieses Phänomens ist, dass vollständige Dinge einem glaubwürdiger vorkommen können als sie wirklich sind, was man am Beispiel des zeitgenössischen Phänomens der Verschwörungstheorien beobachten kann. Diese bieten ein geschlossenes System von Erklärungen, und sind daher attraktiver als solche Ansätze, die durch Teilerklärungen den eigentlichen Gründen des Sachverhalts am nächsten herankommen.

Es sind also die ganzheitlichen Gottessymbole, die uns als letzte noch fassbare Instanz der Empirie zur Verfügung stehen und uns Gott am nächsten bringen. Jung notiert, dass „der naive Verstand keinerlei Unterschied zwischen Gott und dem erlebten Bilde macht. Überall daher, wo man Symbole, die auf psychische Ganzheit weisen antrifft, findet man auch die naive Auffassung, dass damit Gott dargestellt sei”. ((Jung 1989c), §305) Und weiter: „Die Psychologie ist […] nicht in der Lage, metaphysische Behauptungen aufzustellen. Sie kann nur konstatieren, dass die Symbolik der psychischen Ganzheit mit der des Gottesbildes koinzidiert, aber niemals beweisen, dass ein Gottesbild, Gott selber ist, oder dass das Selbst Gott ersetzt.” ((Jung 1989c), §308) Dass Jung kein Psychologismus vorgeworfen werden kann, wird mit dieser Position endgültig und eindeutig klar. (4)

Was das Wesen Gottes angeht, endet hier praktisch der Horizont der Psychologie. Es wird die Aufgabe der Philosophie und der Theologie sein, die Lektionen aus den Analogien zwischen Gnostizismus und der Psychologie zu ziehen und weitere Konsequenzen abzuleiten. Eines steht allerdings fest, wenn überhaupt kann nur ein vollständiges Individuum die Ganzheit Gottes erfassen.

Die Psychologie von Jung strebt also nach psychischer Ganzheit: als konkretes Ziel für die Behandlung von Neurosen oder Psychosen und für die Beseitigung von Fehlanpassungen des Menschen in einer harmonischen Gesellschaft, als breiteres Ziel für die Vollständigkeit des Menschen und seine damit verbundene ganzheitliche Entwicklung. Für Jung ist das nur möglich, wenn das Bewusstsein sich mit den Inhalten des Unbewussten auseinandersetzt, d. h., diese ins Bewusstsein hervorhebt. Erst dadurch kann eine psychische Ganzheit erreicht werden. Diese Brechung der Dualität durch gleichzeitige Bewusstwerdung der Gegensätze bedeutet nichts weniger als ihre Transzendenz. Es handelt sich um einen notwendigen Schritt, damit die Vollständigkeit der Psyche erreicht werden kann.

Und genau da setzt Jung seine Kritik am Gnostizismus bzw. an den Gnostikern der Antike an. Jung kritisiert an den Gnostikern, dass sie die dualistische Symbolik ihrer Psyche in die Welt projizieren. ((Segal 1992), s. 34) Die Erkenntnis über Gegensätze der Psyche ist zwar notwendig, dennoch ist nach der Differenzierung des Bewusstseins aus dem Unbewussten (Entstehung des Demiurgs) ein weiterer Schritt nötig, damit der Prozess der Individuation vollendet werden kann, nämlich eine rückwirkende Auseinandersetzung des Bewusstseins mit dem Unbewussten. Auch wenn es nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, steht Jungs Kritik damit im Einklang mit anderen kritischen Auseinandersetzungen mit dem sogenannten pessimistischen (auch bekannt als anti-kosmischen) Gnostizismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als Beispiel kann hier ein bekannter Aufsatz von Hans Jonas angeführt werden ((Jonas 1952)). In seiner Philosophie untersucht und beschreibt Jonas diesen unvollständigen Zustand des modernen Menschen mithilfe der Existenzialphilosophie. Der Existenzialismus bietet genau den richtigen Rahmen für die Beschreibung eines Zustands der totalen Entfremdung des Individuums, was für Jung die vollkommene Differenzierung des individuellen Bewusstseins bedeuten würde. Jonas (wie Jung letztendlich auch) sieht einen Ausweg in der Überwindung oder Transzendenz der Dualismen in Richtung einer einheitlichen Vollständigkeit.

Der Weg zur Vollständigkeit führt also zunächst über die vollkommene Differenzierung und Dualität hinaus und dann wieder zurück zu einer neuen Einheit. Dieser Weg ist jedoch nur möglich durch ein transzendierendes Wissen, ein inneres, nicht reduzierendes Wissen, das nichts anderes ist als Gnosis. Reduzierendes Wissen kann nur bis zur vollständigen Differenzierung helfen, der Rest ist nur mithilfe von Gnosis möglich, und beide Arten des Wissens sind nötig, damit sich der Kreis der vollständigen Entwicklung schließt.

Jung war weder Philosoph noch Theologe. Er war Psychiater, ein Wissenschaftler letztendlich, so wie er sich selbst auch gerne bezeichnete. Er arbeitete in einer Klinik, behandelte Patienten und schrieb dabei eigene Beobachtungen nieder. „Ich schreibe nicht als Schriftgelehrter (der ich nicht bin), sondern als Laie und als Arzt, dem es vergönnt war, tiefe Einblicke in das Seelenleben vieler Menschen zu tun.” ((Jung 1988), §559) Er war auch kein Gnostiker, weder im historischen Sinne noch im Sinne einer modernen religiösen Bewegung. Zu einer neuen Definition von Gnostizismus oder Gnosis hat er auch nicht beigetragen. So kann es strickt betrachtet, keinen „Gnosisbegriff nach Jung” geben.

So verlockend es auch sein mag, motiviert durch einige seiner Äußerungen hier und da, seine persönliche Stellung zu Philosophie und Theologie in Betracht zu ziehen, sollte man dies nicht tun, denn sein streng wissenschaftlicher Ansatz, der bis an die Grenze der Objektivierung der Psyche und ihrer Funktionen ging, lässt dies nicht zu, und solche Interpretationen waren von ihm selbst auch gar nicht erwünscht. Als Folge einer derartigen Distanzierung war die Person Jung als Mensch praktisch kaum anders betroffen von den eigenen Ideen als die Nachwelt, ähnlich wie eine Physikerin, die von den Gesetzen der Physik genauso betroffen ist wie die Laien.

In der Tat ist diese Analogie ganz und gar nicht verkehrt: in seinen empirischen Arbeiten im Bereich Psychologie hat Jung oft und gerne Bezug auf die Physik genommen und von Analogien zwischen den beiden Disziplinen profitiert, bzw. die bereits zeitlich vorangegangenen physikalischen Errungenschaften in der Psyche zu finden versucht. Auch mit bekannten Physikern seiner Zeit wie Heisenberg und Pauli war er in engem Kontakt.

Es gibt dennoch Anlass, in Jungs Werken enorme Konsequenzen speziell für die Philosophie aber auch teilweise für die Theologie zu sehen. Durch die Beobachtung der Psyche und ihre Funktionen werden einige geistige Phänomene zwar nicht erklärt, aber zumindest so modelliert, damit sie in einem neuen Gesamtbild der Psyche einen neuen Platz finden. Als Beispiel könnte man den Gottesbegriff nennen: wie alle anderen Naturwissenschaften hat die Psychologie von Jung keinen Zugang zu Gott, kann Gott weder beweisen noch widerlegen, noch in irgendeine Art und Weise beschreiben, doch stellt Jung fest, wie bereits erwähnt, dass Gottesbilder psychische Tatsachen sind.

Zu der Beschreibung der Psyche kommen noch weitere Funktionen und Konstrukte wie Muster (Archetypen), Prinzipien (wie Komplementarität, Synchronizität etc.) hinzu. Jung findet den Grund für Neurosen und damit auch Psychosen in einem aus dem Gleichgewicht geratenen Tauziehen zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten, in der Überdifferenzierung einer psychischen Hauptfunktion, z. B. Denken im Vergleich zum Fühlen, im Unterschied zwischen dem Ego gegenüber dem vernachlässigten „Schatten”, aber auch in der Suche nach Vollkommenheit statt Vollständigkeit:

Denn wie die Vollständigkeit stets unvollkommen, so ist die Vollkommenheit stets unvollständig und stellt darum einen Endzustand dar, der hoffnungslos steril ist. «Ex perfecto nihil fit», sagen die alten Meister, während dagegen das «imperfectum» die Keime zukünftiger Verbesserung in sich trägt. Der Perfektionismus endet immer in einer Sackgasse, während die Vollständigkeit allein der selektiven Werte ermangelt.

((Jung 1988), §620)

Die gesunde, gedeihende Psyche nach Jung ist nur eine vollständige Psyche, nämlich eine Psyche, die Gegensätze in sich enthält, die wiederum zueinander gepolt sind. Diese Pole erzeugen eine Art Lebenspotential untereinander, durch das das psychische Leben der Menschen und überhaupt die psychische Evolution der Menschheit, vor allem im Bezug auf Gesellschaft, möglich wird. In einem vereinfachten Bild ist die gesunde Psyche also die Heimat von Gut und Böse zugleich, von Licht und Schatten, von Weiblichkeit und Männlichkeit, von Yin und Yang usw. Die gesunde Psyche gedeiht im Raum zwischen den gegensätzlichen Polen, jeder Versuch einer Überdifferenzierung in Richtung einer der Pole (Vollkommenheit bzw. Perfektion) oder sogar der Versuch alle gegensätzlichen Pole abzudecken (Nietzsches Übermensch), ist nach Jung zum Scheitern verurteilt.

Das ideologische Verhalten von Menschen, darunter auch das (kollektiv) religiöse und letztendlich das kulturelle und historische Verhalten, kann im Lichte dieses psychischen Models betrachtet werden. Einige Muster werden aus einer nicht ausgeglichene Psyche erklärbar, unter anderem Dinge wie das über Jahrtausende andauernde Patriarchat, religiöse Institutionen, Kriege, Heimtücke der modernen Wirtschaft und Technik aber auch die Positionierung der Menschen gegenüber der Natur. Jungs Psychologie legt nahe, dass die Lösung solcher kollektiver Probleme in Individuen gesucht werden. In dieser psychologischen Sicht der Problemsuche steht daher das Individuum im Vordergrund.

Betrachtet man die Eigenschaften einer gesunden Psyche, z. B. die o. g. Dualität, das individuelle psychische Gottesbild und andere Beschreibungen der psychischen Funktionen, wird es schnell klar, dass man auch historische Phänomene wie die frühchristlich gnostische Bewegung, aber auch andere Mysterien und alternative religiöse Bewegungen damit in Verbindung bringen kann. Vielen darunter ist gemeinsam, dass der Weg individuell, die Teilnahme auf Augenhöhe, die Gruppen klein, das Wissen esoterisch etc. ist. Den Gegensatz dazu bilden gemeinsame Wege, Hierarchien, „universale” (gr. katholikos) Leitlinien und exoterische Fakten etc. Kein Wunder, dass in der Geschichte die Gnosis kaum von den herrschenden Institutionen geliebt worden ist, mehr sogar, dass Gnostiker oft Opfer von Gewalt wurden.

Wie bereits erwähnt, erkannten Gnostiker die Begegnung mit den inneren Dualismen, projizierten diese allerdings auf die Welt, aus der Jung’schen Perspektive betrachtet, ohne eine innere Auflösung bzw. Vollständigkeit anzustreben. Ein prominentes Beispiel hierfür ist ihre Distanzierung vom Weltlichen, d. h. die fehlende Weltbejahung. Dabei ist die Gnosis in ihrer vollständigen Entwicklung in der Tat sehr weltbejahend, anderes ist aus einem ausgeglichenen psychischen Fundament nicht zu erwarten. Ein weiteres Beispiel ist eine historisch extreme Beachtung, wenn nicht Hochachtung, von dem Zustand der Zusammenkunft aller gegensätzlichen Pole, ein Zustand der vielleicht hier und da sogar mit Göttlichkeit verwechselt wurde (Abraxas). Eine Gnosis nach Jung distanziert sich auch davon, zugunsten eines Lebens zwischen den Gegensätzen.

Die genannten Probleme des Gnostizismus wurden auch von Hans Jonas erkannt. Die Ansichten von Jung und Jonas sind nahezu deckungsgleich, auch wenn sie sich jeweils einer anderen Sprache bedienen: Jonas der philosophischen und Jung der psychologischen Sprache. Jonas erkannte die psychologische Wurzel der Problematik. Er entwickelte eine Ethik der Zukunft basierend auf einer inneren Einstellung gegenüber der Welt, ähnlich wie Jung, der eine vollständige Psyche und damit eine ausgeglichene Welt in der Auseinandersetzung mit der eignen Psyche sah. Die psychologische und die philosophische Herangehensweise sind komplementär. Die Fortsetzung dieser Arbeit wird sich mit dem komplementären Aspekt der beiden Ansätze befassen.

Fußnoten:
  1. Hippolyt von Rom, (170 – 235 u. Z.) Autor und Schüler vom Kirchenvater Irenäus von Lyon.
  2. „Als subjektiven Faktor bezeichne ich jene psychologische Aktion oder Reaktion, welche sich mit der Einwirkung des Objektes zu einem neuen psychischen Tatbestand verschmilzt.” ((Jung 1989a), §396)
  3. Jung zitiert hier: Epiphanios von Salamis, Panarium, XXXI, Kp. V.
  4. Dass er des Psychologismus verdächtigt werden könnte, war Jung bewusst. vgl. dazu ((Jung 1988), §557)
Referenzen:
  • Jonas, H. 1952. “Gnosticism and Modern Nihilism.” Social Research, 430–52.
  • Jung, C. G. 1988. “Antwort Auf Hiob.” In Zur Psychologie Westlicher Und östlicher Religion (C. G. Jung Gesammelte Werke), 5th ed. Vol. 11. C G Jung Gesammelte Werke. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter Verlag.
  • ———. 1989a. “Der Introvertierte Typus.” In Psychologische Typen (C. G. Jung Gesammelte Werke), 16th ed., 6:406. C G Jung Gesammelte Werke. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter Verlag.
  • ———. 1989b. “Die Struktur Und Dynamik Des Selbst.” In Aion – Beiträge Zur Symbolik Des Selbst (C. G. Jung Gesammelte Werke), 7th ed. Vol. 9/2. C G Jung Gesammelte Werke. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter Verlag.
  • ———. 1989c. “Gnostische Symbole Des Selbst.” In Aion – Beiträge Zur Symbolik Des Selbst (C. G. Jung Gesammelte Werke), 7th ed. Vol. 9/2. C G Jung Gesammelte Werke. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter Verlag.
  • Segal, R. A. 1992. The Gnostic Jung. Mythos. Princeton, N.J: Princeton University Press.

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